Das Weihnachtsfest steht unmittelbar bevor. Mit kaum einem anderen Fest sind mehr Erwartungen verbunden als mit Weihnachten. Kaum ein anderes Fest verursacht einen größeren Kaufrausch und mehr Stress im Vorfeld - und bei kaum einem anderen Fest ist das Riskio größer, dass die Erwartungen enttäuscht werden.
Es wäre wohl spannend, nachzuforschen, warum das so ist und wie es dazu kommen konnte. Ich möchte mit diesem Beitrag den Fokus aber etwas weiten und darüber nachdenken, welche Rolle Erwartungen und Enttäuschungen in unserem Leben spielen.
Mit Erwartungen werden wir geboren.
Jeder Mensch erwartet intuitiv nach seiner Geburt, dass seine unmittelbaren Bedürfnisse nach Nahrung, Wärme, Geborgenheit und Schmerzfreiheit gestillt werden. Diese Erwartungshaltung resultiert aus den Erfahrungen, die wir aus dem Mutterleib mitbringen. In der Fruchtblase, in der wir herangewachsen sind, wurden wir ernährt, warm gehalten, waren geschützt und wohl in der Regel schmerzfrei. Wir erhielten dosierte Anregungen und Impulse von außen, die wir im Rahmen unseres jeweiligen Entwicklungsstands wahrnehmen und verarbeiten konnten. Diese vorgeburtlichen Erfahrungen prägen die neuronalen Verknüpfungen unseres Gehirns und führen zur entsprechenden Erwartungshaltung nach der Geburt.
Nach der Geburt passt sich unser Gehirn sofort an die neue Situation an. Erleben wir dieselbe Reaktion auf unsere Erwartungen, dh. werden unsere Bedürfnisse unmittelbar gestillt, verstärken sich die Verknüpfungen der Nervenbahnen und wir fühlen uns sicher, denn wir erleben, dass unsere Erwartungen auch in der neuen Welt richtig sind.
Wenn Erwartungen erfüllt werden, fühlen wir uns sicher.
Werden unsere Erwartungen aber plötzlich nicht mehr oder nicht mehr unmittelbar erfüllt, gerät unser Gehirn in Aufruhr. Wir spüren Angst, dass wir verhungern, erfrieren, fühlen uns fremd oder beängstigenden Geräuschen, Gerüchen oder Bewegungen ausgeliefert. Wir spüren intuitiv, dass unsere Erwartungen falsch waren - dass wir uns getäuscht haben. Die neue Situation ent - täuscht uns, dh. sie löst die Täuschung auf und konfrontiert uns mit einer neuen Realität, die zu angepassten Erwartungen führt. Das geschieht meist nicht unmittelbar, wenn unsere gefestigten Erwartungen einmal nicht sofort erfüllt wurden. Das Baby, das Hunger hat, aber einige Minuten lang auf seine Milch warten muss, geht durch eine Phase der Angst hindurch, während es warten muss, lernt dann aber, dass sein Bedürfnis trotzdem gestillt wird. Wiederholt sich das Ereignis - das Wartenmüssen - mit einer Regelmäßigkeit, dann passt es seine Erwartung an: Es kommuniziert auch weiterhin sein Bedürfnis nach Nahrung, gerät aber nicht mehr sofort in Panik, sondern lernt, den Hunger für eine gewisse kurze Zeit auszuhalten.
Diesen Prozess - eine Erwartung haben, enttäuscht werden, die Erwartung anpassen - erleben wir von Geburt an andauernd. Je älter wir werden, desto mehr Erwartungen entwickeln wir.
Erwartungen geben uns Orientierung.
Wenn wir abends ins Bett gehen, erwarten wir, am nächsten Morgen wieder aufzuwachen. Wenn wir uns ins Auto setzen, erwarten wir, dass der Motor anspringt, sobald wir den Zündschlüssel drehen. Wenn wir den ganzen Monat lang zuverläßig zur Arbeit erschienen sind, erwarten wir, dass wir unseren Lohn auf dem Bankkonto vorfinden werden. Würden wir das alles nicht erwarten, wären wir ständig im Zweifel, was als nächstes auf uns zukommen wird. Erwartungen sind also ganz praktisch, um unser Leben auf eine gewisse Weise zu entspannen. Bis sie dann einmal nicht erfüllt werden und unser Gehirn durcheinanderbringen. Das können kleine Dinge sein wie der Autoschlüssel, der nicht an seinem erwarteten Platz hängt, oder größere, wie der Partner, der die Beziehung ganz unerwartet beendet.
Jede nicht erfüllte Erwartung löst Stress aus.
Viele Entwicklungen im Leben haben wir nicht im Griff und können sie nur bedingt oder gar nicht beeinflussen. Darüber habe ich in meinem Blogartikel "Leben ist das, was passiert, während du etwas anders planst" geschrieben. Wir können uns das Leben aber auch extra schwer machen, wenn wir uns in Erwartungshaltungen begeben, die nicht nötig sind. Zwischenmenschliche Beziehungen eignen sich hervorragend dazu. Sobald wir von anderen Menschen etwas erwarten, ist das Risiko, enttäuscht zu werden hoch. Es verringert sich, wenn wir unsere Erwartung offen kommunizieren. Dann folgt die Enttäuschung entweder sofort, wenn der andere Mensch uns direkt sagt, dass er unsere Erwartung nicht erfüllen kann oder will, oder er macht, was wir uns von ihm wünschen. Sprechen wir jedoch nicht über unsere Erwartungen, sondern erwarten, dass er spürt/errät/weiß, was wir von ihm wollen, so potenziert sich das Ent-Täuschungsrisiko. Das ist besonders in längeren Beziehungen der Fall wie in gefestigten Familienstrukturen. Sie strotzen in der Regel vor unausgesprochenen Erwartungen, die immer wieder zu Missverständnissen, Verletzung und eben: Ent-Täuschung führen.
Ent-Täuschungen sind zu unrecht negativ behaftet.
Kaum jemand freut sich über eine Ent-Täuschung, dabei bieten sie uns hervorragende Möglichkeiten und Chancen, uns und unsere Mitmenschen, ja, das Leben an sich besser kennenzulernen und zu verstehen. Immer dann, wenn wir eine Täuschung erkennen, befreien wir uns von einem Irrglauben. Das ist doch eine große Erleichterung! Mit jeder entlarvten Täuschung werden wir ein kleines Stückchen weiser. Das ist eigentlich eine erfreuliche Erkenntnis! Doof ist nur, dass Ent-Täuschungen meist nicht spurlos an uns vorübergehen, sondern schmerzhaft sind und unser Gehirn erst mal in Unordnung bringen. Sie sind also in der Regel mit einem hohen Engergieverlust verbunden. Was können wir dann tun, wenn wir zwar gerne etwas weiser wären, aber ökonomisch mit unseren Energiereserven haushalten möchten? Richtig!
Je weniger Erwartungen wir haben, desto kleiner ist das Risiko, ent-täuscht zu werden.
Weniger Erwartungen zu haben, heißt nicht, gleichgültig durchs Leben zu gehen, sich anderen Menschen gegenüber zu verschließen und keine Träume oder Ziele zu verfolgen. Es bedeutet nicht, dass wir resignieren, sondern es bedeutet, dass wir uns öffnen und Begegnungen, Entwicklungen und Veränderungen zulassen, mit denen wir nicht gerechnet haben. Weniger Erwartungen erfordern eine höhere Flexibilität, mehr Dynamik und mehr Vertrauen ins Leben. Denn mit jeder Erwartung, die wir aufgeben, verabschieden wir uns von einem kleinen Stückchen (scheinbarer) Sicherheit.
Erwartungen loszulassen gelingt meist nicht von heute auf morgen, sondern will geübt werden. Wie wäre es, gleich damit zu beginnen? Das bevorstehende Weihnachtsfest wäre eine ideale Gelegenheit dazu...
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